Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, meine Damen und Herren!

Der Schriftsteller Franz Kafka notierte am 1. August 1914 in seinem Tagebuch: „Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. Nachmittag Schwimmschule.“ Mit dieser uns heute unfassbar erscheinenden Formulierung drückte Kafka allerdings die Erwartung vieler seiner Zeitgenossen aus.

Ein kurzer, erfolgreicher Waffengang wie 1870/1871 im deutschfranzösischen Krieg mit anschließender Rückkehr zur friedlichen Normalität: Das war die Erwartungshaltung des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung in den ersten Augusttagen des Jahres 1914. Doch es kam anders. Es begann ein vierjähriges blutiges Massensterben mit Millionen Toten.

Kurz: es wurde die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, wie sie der amerikanische Historiker und Diplomat George Kennan bezeichnet hat. Wir gedenken heute, 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges und 75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Wir erinnern an die Soldaten, die zivilen Kriegsopfer, die Opfer von Massakern und Genoziden.

Wir denken an die Toten der Diktaturen. Wir denken an persönliche Schicksale in abstrakten Kämpfen um Staatsinteressen, in Glaubenskriegen, in Schlachten politischer Ideologien. Gerade die Sinnlosigkeit dieser blutigen Konflikte macht uns auch heute noch nahezu sprachlos vor Betroffenheit.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, der österreichische Schriftsteller Karl Kraus hat in seinem 1922 erschienenen Werk „Die letzten Tage der Menschheit“ geschrieben: „Alles was gestern war, wird man vergessen haben. Was heute ist, nicht sehen. Was morgen kommt, nicht fürchten.

Man wird vergessen haben, dass man den Krieg verloren, vergessen, dass man ihn begonnen, vergessen, dass man ihn geführt hat. Darum wird er nicht aufhören.“

Diese Worte erinnern uns an die doppelte Bedeutung des heutigen Tages: Gedenken und Mahnung Dieses Innehalten ist umso wichtiger, wenn wir uns vor Augen halten, wie sich uns die Welt, ein Jahrhundert nach den ersten Schüssen des Ersten Weltkrieges – heute darstellt:

Die zurückliegenden Kämpfe in der Ukraine und auf der Krim, der in der Vergangenheit seit Jahren anhaltende blutige Bürgerkrieg in Syrien, die Kriegstage in Bergkarabach, die Schreckensherrschaft der Terroristen des Islamischen Staats bei den aktuellen Anschlägen in Frankreich, Österreich und auf vielen Teilen in der Welt: Sie sind nur die hervorstechendsten Beispiele einer Welt, in der nach wie vor viel zu viele Menschen Opfer von Krieg, Terror und Blutvergießen sind. Die Zahl dieser Opfer ist unüberschaubar.

Jeder einzelne Tote hatte seine Familie und seine Freunde, die um ihn trauern. In diesem persönlichen Schmerz wird uns die Tragweite des heutigen Tages bewusst.

Meine Damen und Herren,

so hat es einmal der Autor Henry Miller ausgedrückt: „Jeder Krieg ist eine Niederlage des menschlichen Geistes.“

Aus dieser Erkenntnis heraus, aus der Erinnerung an die bedrückenden Schicksale, muss die Botschaft, die für uns alle von diesem Tag ausgeht, lauten: Nie wieder!

Diese Lektion müssen wir aus den schrecklichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts und der heutigen Zeit lernen: Rechtzeitig zu erkennen, wenn Bürgerrechte ausgehöhlt und Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wir dürfen menschlichem Leid gegenüber nie gleichgültig sein und müssen dort mutig einschreiten, wo Mitmenschen unsere Hilfe brauchen.

Zivilcourage ist kein bloßes Wort, es ist das Lebenszeichen einer menschlichen Gesellschaft. Meine Damen und Herren, wir können den Frieden nur bewahren, wenn wir aktiv für ihn eintreten. Das gilt in der großen Perspektive der Weltpolitik genauso wie im kleinen Rahmen unseres täglichen Lebens.

Dieser Weg ist schwierig, mühsam und voller Hindernisse. Aber er ist machbar, das zeigen nicht zuletzt drei weitere Ereignisse, die sich in 2014 zum 25. Mal jähren. Die Montagsdemonstrationen in der DDR, die Genehmigung der Ausreise der 4.000 DDR-Flüchtlinge aus der Botschaft der Bundesrepublik in Prag und der Fall der Mauer markierten den Anfang vom Ende der Deutschen Demokratischen Republik.

Das Jahr 1989 ging als Jahr des friedlichen Wandels in Osteuropa und als das Jahr in die Geschichtsbücher ein, das den Kalten Krieg beendete. Vor lauter Euphorie über diese friedliche Überwindung der kommunistischen Diktaturen sprach ein amerikanischer Politikwissenschaftler – Francis Fukujama – sogar vom „Ende der Geschichte.“

Nach dieser These würde sich nunmehr die Demokratie auf der gesamten Welt ausbreiten. Ein Blick auf den blutigen Globus belehrt uns leider eines Besseren. Daher erinnern wir uns insbesondere an einem Tag wie heute der Verpflichtung, gemeinsam daran zu arbeiten, dass dem Bösen in unserer Welt stets genügend Gute entgegenstehen.

Meine Damen und Herren, unsere gemeinsame Erinnerung am Volkstrauertag an die Millionen Toten muss uns die persönliche Aufforderung sein, tagtäglich den Weg des Friedens zu gehen – ein Weg, der lang und beschwerlich, aber darum nicht weniger lohnenswert ist. Vielleicht erreichen wir es dann – das zitierte „Ende der Geschichte.“